Wenn es um den schriftlichen Umgang miteinander geht, verfällt immer mehr dem SMS-Kürzelstil. Bedauerlich: niemand hat mehr Zeit einen echten Brief zu schreiben, geschweige denn zu lesen oder Feinheiten zu erkennen.
Kürzlich fiel mir hierzu ein Text in die Hände, den ich zitieren möchte:
Stets der Deine
"Gibt es sie eigentlich noch, jene sozialen Distinktionsmerkmale, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu "die feinen Unterschiede" nennt? In der westlichen Warengesellschaft drückt sich Klassenzugehörigkeit vor allem in Markenartikeln aus, und dafür gelten sicher noch immer zahlreiche Feinabstufungen. Aber seit Jungmanager T-Shirts unterm Nadelstreifenanzug tragen, seit, quer durch alle Schichten, umstandslos geduzt wird und die Liebe zum ehemaligen Volkssport Fußball den letzten Kick für Intellektuellengespräche liefert, wird man nicht mehr so ohne weiteres ausmachen können, wer zu dem gehört, was früher "die bessere Gesellschaft" hieß. Einen Bereich aber gibt es noch immer, wo der Bürger sofort weiß, woran er bei dem anderen ist. Und das ist der Bereich der schriftlichen Korrespondenz genauer gesagt dessen Schlussformel.
Nun sind zweifellos die Zeiten vorbei, in denen man sich "untertänigst" dem Adressaten als "sehr ergebener Diener" empfahl, und selbst in Frankreich ist jenes "Wollen Sie bitte, verehrter Herr, den Ausdruck meines tief empfundenen Respekts annehmen" einem zeitgemäßen "très à vous" gewichen, mit dem man inzwischen jeden Brief unterzeichnen kann. Aber jene Geste der Verbeugung, jener Ausdruck von Zugewandtsein, der sich im besitzanzeigenden Fürwort ausspricht, hat doch noch immer seine Gültigkeit, und es kann mit Fug und Recht für schlecht erzogen gehalten werden, der auf das "Ihr" oder "Dein" vor der Namensnennung am Schluss der noch so kurzen Mitteilung verzichtet.
In den Siebzigern, als man meinte, alle überkommenen Formen auf den Prüfstand stellen zu müssen, war das Possessivum natürlich verpönt, weil es als angebliches Ritual der Unterwerfung dem Ideal vom "herrschaftsfreien Diskurs" widersprach. Noch mehr fürchtete man freilich, vulgärpsychologisch geschult, wie man war, eine emotionale Abhängigkeit à la "ich gehöre (zu) Dir" zu bezeugen, wenn man seinen besten Grüßen ein "Dein" oder "Ihr" anfügte. Dabei geht es hier weder um asymmetrische Herrschaftsverhältnisse noch um Liebeserklärungen, sondern schlicht und einfach darum zu sagen: Ich bin, für das Abfassen dieses Briefes, aber auch sonst FÜR DICH DA.
Die possessivische Schlussformel dient also, im Gegensatz zu der Meinung des "aufgeklärten Bewusstseins", eben gerade nicht der Hierarchisierung, sondern der Gleichstellung. Gute Chefs wissen das genauso wie gute Freunde. Nie vergessen werde ich die Hausmitteilungen meines ersten Arbeitgebers, Herausgeber einer nicht ganz unbedeutenden Regionalzeitung seines Zeichens, der noch dem Redakteursanfänger ein "Lieber Herr Krause" sowie ein "Ihr rdh" gönnte, und wenn zwischen diesen beiden Zeilen nur ein geschäftsmäßiges "Interesse ?" stand. Ein ordentlicher Text verfügt eben über Anfang, Mitte und Schluss.
Freilich gehört, und damit sind wir wieder bei der Distinktion, zur bewussten Verwendung solcher Korrespondenzrituale ein Wissen um ihre symbolische Funktion. Und Selbstbewusstsein! Denn man muss es sich leisten können, ohne an seinem Ego Schaden zu nehmen, einem anderen Menschen "zuvorkommend" zu begegnen, ohne Ansehen von dessen gesellschaftlicher Stellung übrigens. Auch dafür hat ein Bürger, der nebenbei Schriftsteller war, eine schöne Formel gefunden: "Ich habe Würde genug, um viel verschwenden zu können." Besagter Bürger hieß Thomas Mann."
Quelle: Online-Welt, Freitag, 28. Januar 2005
Bemerkenswert.
Montag, 10. April 2006
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