Samstag, 26. August 2006

Vertäuscht?


Aber vielen Leuten sitzen wir doch länger gegenüber, wir essen und arbeiten zusammen, liegen nebeneinander, wohnen unter einem Dach. Wo ist da die Flüchtigkeit? Doch alles, was uns Beständigkeit, Vertrautheit und intimes Wissen vorgaukelt: Ist es nicht eine zur Beruhigung erfundene Täuschung, mit der wir die flackernde, verstörende Flüchtigkeit zu überdecken und zu bannen suchen, weil es unmöglich wäre, ihr in jedem Augenblick standzuhalten? Ist nicht jeder Anblick eines Anderen und jeder Blickwechsel doch wie die gespenstisch kurze Begegnung von Blicken zwischen Reisenden, die aneinander vorbeigleiten, betäubt von der unmenschlichen Geschwindigkeit und der Faust des Luftdrucks, die alles zum Erzittern und Klirren bringt?

(Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon)


Ist es das? Ist empfundene Nähe zu einem anderen nur eine Täuschung, danach suchend, uns selbst zu vergewissern, nicht alleine zu sein? Ist Vertrautheit, Intimität nichts weiter als eine Lüge, die uns schützen soll vor der Erkenntnis, mit nichts und niemandem vertraut zu sein, und darüber hinaus nichts und niemandem trauen zu können?

Wie aber soll man es nennen, wenn ein vertrauter Mensch einen Satz beginnt, und man selbst ihn im Geiste zu beenden vermag? Oder wenn man sich von den gegenüberliegenden Winkeln eines Raumes über die Köpfe anderer Anwesenden hinweg ansieht und ein Zwinkern, ein Blinzeln, das Zucken eines Mundwinkels verstanden wird, ohne dass ein Wort gesprochen wurde? Und warum schreckt man zurück, vor allzu großer körperliche Nähe zu einem Fremden, genießt jedoch nackte Intimität mit dem Menschen, der einem nahe steht? Und wie soll man diese Innigkeit nennen, mit der man sich einander an der Hand fasst, ganz selbstverständlich, auf dem Waldspaziergang oder im Treppenhaus oder auf dem Weg, Verwandte zu besuchen? Und was ist es, das einander alles erzählen lässt, sogar die ganz alten Geschichten, welche einem noch heute in der Erinnerung Schamesröte ins Gesicht treiben? Und warum zeigt man sich manchen Menschen mit Schlaffalten im Gesicht und in ausgeleierten und verwaschenen Shirts und anderen nicht? Und warum dürfen einige Menschen über einen selbst lachen und andere nicht?

Wenn Nähe und Vertrautheit nichts weiter als eine Täuschung ist, was ist dann mit der Liebe, mit dem Leben?

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Nein, diese Nähe ist keine Täuschung. Denn natürlich kann man nie GENAU wissen, was der andere denkt, aber die Erfahrung lehrt einen ja. Und die Erfahrung lehrt einen ja auch, das man ja wirklich oft dasselbe denkt. diesselben dinge gleich beurteilt. in ähnlichen situationen gleich reagiert. das stellt diese nähe und vertrautheit her.
leider ist es trotz allem so, daß der vertrauteste mensch auch ein erlebnis oder auch nur einen gedanken haben kann, der gegen die sonstigen regeln verstößt, den man dann auch nicht erahnen kann...was in einer sekunde diese nähe zerstört. nähe und vertrautheit ist ein zerbrechliches glück und wenn man es erlebt, sollte man jede sekunde genießen ;)

Anonym hat gesagt…

Ich unterscheide zwischen der Selbsttäuschung und der Täuschung.
Bei der Täuschung ist man immerhin mindestens zu zweit. Bei der Liebe auch.
Und wenn zwei sich lieben, mit dem ganzen Sein, können sie sich ruhig täuschen dabei.
So lange sie sich weiterhin zu zweit täuschen ;-)

Der dicke Mann hat gesagt…

@ Wintermond: Solange aus Täuschung nicht Enttäuschung wird ist alles in Ordnung.:)

@ mariel: Genau - wenn wir eh' wissen, dass wir hier nicht lebend rauskommen, sollte man die Zeit nutzen!

Vertrauen ist - genau wie das Fliegen - die Kunst, sich auf den Boden zu werfen und ihn dabei zu verfehlen. In diesem Falle, weil berechtigtes Vertrauen den Fall aufhält.
Natürlich wird es immer wieder Fälle geben, bei denen man den Boden trifft und zwar mit der Härte der Realität aufschlägt - aber soll das wirklich dazu führen, den Traum vom Fliegen aufzugeben und die Flügel in den Schrank zu hängen.?

Anonym hat gesagt…

hm, vielleicht sollte ich dieses buch doch auch mal lesen. das mit dem den boden verfehlen ist auch ein schönes zitat und eine gute metapher. aber täuschung gehört doch genau so dazu wie Enttäuschung. vielleicht könnte man es hart auch so formulieren: täuschung ist das verlieben - Enttäuschung die Liebe?

Anonym hat gesagt…

Nehmt ihr alle Drogen oder seid Ihr im Club der scheintoten Dichter? Muß man denn ALLES hinterfragen? Seid Ihr alle unglücklich? Unzufrieden? Oder habt Ihr keine Probleme und sucht Euch welche? Nähe und Vertrautheit sind wirklich ein zerbrechliches Glück, darum sollte man es auch beim Genießen lassen und nicht alles hinterfragen... Zuviel Wissen über den Anderen kann tödlich sein, und das gilt für BEIDE Seiten. Solange alles harmoniert sollte man sich selbst nicht das Glück durch überflüssige Grübeleien und pseudo-philosophische Gedanken zerstören.

Der dicke Mann hat gesagt…

@anonmym: SOLANGE alles harmoniert, hast Du unumwunden recht. Allerdings, wenn irgendwann einmal etwas so richtig aus der Harmonie gerät und die Welt ausnahmslos schräg aussieht, ist der Austausch von Gedanken recht heilsam.

Anonym hat gesagt…

Ich teile die Ansicht von "anonym", kann allerdings auch verstehen, daß man sich in einer Krise auch mit anderen austauschen möchte. Das ist auch völlig ok, aber ich mag es nicht wenn man um den heißen Brei redet und (ich zitiere) "pseudo-philosophisch" wird. Ein einfaches "Mann, mir gehts beschissen weil..." oder "Alle sind sind gegen mich..." wirkt echt befreiend und drückt unumwunden die echten Gefühle aus. Freunde werden auf jeden Fall Verständnis für Überreaktionen haben. Für mich gilt die Regel: trauern, hassen, gleichgültig werden und dann verstehen. Natürlich in gesundem Rahmen und vor allem: gerade heraus. Phrasen führen oft zu Verwirrungen und Unverständnis, denn nicht jeder ist auf Befehl philosophisch veranlagt. Letztendlich ist aber alles erlaubt (außer Mord), denn wir alle sind ja nur Menschen, und jeder muß sehen welcher der beste Weg für ihn ist.